Plastikspinnen, Mini-Totenköpfe, 10er-Kracher, Schulhefte, Töpfe, verstaubte Aschenbecher, angelaufene Gläser, Faschingskostüme, Tintenkiller, Zirkel, grünglibberige Quatschmasse und nachgeahmte portugiesische Fliesenkunst… etliche Regale voll.
Die Luft roch abgestanden, irgendwie alt. Ein bisschen so, wie in einem Antiquariat.
Hier gab es nichts, was es nicht gab.
Das war die aufregende Welt des Mini-Warenhauses in unserem Stadtteil. Dieses Abenteuerreich wurde geführt vom Seniorchef, der es bereits von seinem Vater und der von dessen Vater übernommen hatte.
Und es gab nichts Spannenderes, als dabei zu sein, wenn die wöchentliche Lieferung an Scherzartikeln und alltäglichen Produkten ankam. Wir Kinder schlichen an den Tagen ständig um den Senior herum und freuten uns schon auf seine leuchtenden Augen, wenn er jedes einzelne gelieferte Teil in die Hand nahm, fast liebevoll auf Beschädigungen prüfte und einen passenden Platz dafür suchte.
Vorher erzählte er uns aber zu jedem Stück, was es war, wo er es gefunden hatte und was er daran so faszinierend fand. Es war kaum zu glauben, wie spannend es sein kann, die Herkunft von schwarzen Plastikspinnen oder Glibbermasse zu erfahren.
Sein Sohn wuchs mehr im Geschäft als zuhause auf. Er kannte auch jedes Stück, jeden Preis, jeden Händler. Und fast jeden Kunden. Und er übernahm das Geschäft im letzten Jahr. Das war wohl schon lange klar. Ob er gefragt worden war, weiß ich nicht.
Aber, dass er keine Leidenschaft für das Geschäft hatte, spürte ich schon als Kind. Ohne Zweifel, er war nicht wie sein Vater. Ihm fehlte der Sinn für die profanen Dinge des alltäglichen Lebens. Für das Glück im Kleinen.
Der Senior starb ein Jahr darauf. Das Geschäft existierte noch gut 10 Jahre.
Ein echtes Wunder, denn aus dem ehemals schmucken, immer wieder überraschenden Mini-Kaufhaus, war ein langweiliger vernachlässigter Laden geworden. Der Sohn stand hinter der Kasse, wie ein Bollwerk – stets missmutig und irgendwie immer auf dem Sprung.
Eines Tages zog er für sich einen Schlussstrich, verpachtete das Geschäft und begann, sein eigenes Leben zu führen. In einem Job, den er wirklich wollte.
„Tradition hin oder her“, sagte er, „es ist einfach nicht mein Ding.“
Tradition verpflichtet – auch Dich?
Du bist irgendwann den Fußstapfen oder der Erwartungswelt Deiner Umwelt gefolgt? Aus Tradition, Harmoniebedürfnis, Bequemlichkeit? Hättest Du viel lieber etwas anderes gemacht statt Vaters Firma zu leiten oder in die “sichere” Bank zu gehen?
Wie bist Du zu Deinem Job gekommen?
Kinder möchten meistens Rennfahrer, Politiker oder Pilot werden. Teenager erweitern dann ihren Horizont schon ein wenig weg von den elterlichen Ansichten und Erwartungen. Weg von den immer häufiger gestellten Fragen: „Was willst Du eigentlich mal machen?“.
Bei mir war es der Wunsch, Tierärztin zu werden. Meine Leidenschaft der toten Sprache Latein gegenüber kam da gerade recht. Bis ich mich mit den Details des Berufes beschäftigte…
Irgendwann kam dann der Tag, an dem ich mich ernsthaft damit auseinander setzen musste, ob ich eine Ausbildung machte oder studierte, in der Umgebung blieb oder wegzog, was ich verdienen wollte, etc.
Kurz: Worin ich mich die nächsten 40 Jahre oder mehr beruflich engagieren wollte.
Allein der Gedanke, fast ein halbes Jahrhundert arbeiten zu müssen, erschlägt einen dann. Die Orientierungslosigkeit löst auch nicht gerade ein Besuch in einer sterilen Arbeitsagentur oder das scannen von gefühlten 1000 Internetblogs.
Wie hast Du Deine Berufswahl erlebt?
Ach, die Frage stellte sich gar nicht? Die Eltern hatten ein eigenes Geschäft?
Oder arbeiteten seit Jahren in der Autoteilefabrik um die Ecke?
Oder – gar keine Frage – die Karriere bei der Bank des Vaters rief?
Oder gab es jemanden, der seine eigenen Träume auf Erfolg auf den Nachwuchs übertragen wollte? Als Tänzer, Architekt, Landwirt…
Sei ehrlich: Was hat Dich motiviert, Deinen beruflichen Weg einzuschlagen? Bist Du damit glücklich?
Oder bist Du erst Deinen eigenen Weg gegangen und hast Dich im fortgeschrittenen Alter ausbremsen lassen, um den elterlichen Betrieb zu übernehmen?
Welche traditionellen Grenzen halten Dich beruflich fest?
Gar keine!
Sicher?
Vor Jahren riet mir ein befreundeter NLP-Kollege, mich unbedingt selbständig zu machen. Ich wusste damit überhaupt nichts anzufangen. Ich und selbständig?
Aus einer typischen Arbeiterfamilie entsprungen, kannte ich das Wort „Selbständigkeit“ nur aus der ehrfurchtsvollen Betonung meiner Mutter. „Der ist ja selbständig!!!“. Bei ihr hatte das etwas von Ludwig XIV. Bis heute weiß ich nicht, was dieser Unterton bedeuten sollte.
Später juckte es mir immer mehr in den Fingern, mich selbständig zu machen. Ich besuchte also ein Seminar mit Existenzgründerberatern. In einem Einzelgespräch fragte mich einer der Berater, wie es denn mit der Selbständigkeit in meiner Familie sei. Auf meine negative Antwort, winkte er gleich ab: „Dann wird das nichts. Bleiben Sie mal angestellt. Wer das gar nicht kennt, der schafft das nie“
Wie lange dieser völlig idiotische Satz nachgewirkt hat…
In wenigen Sekunden zog er damit meterhohe Mauern um mich herum hoch. Für ihn war die Tradition des „angestellt sein“ innerhalb der Familie ausschlaggebend. Ein Ausbruch war für ihn nicht vorstellbar.
Auch solche Traditionen (immer schon angestellt, immer Beamte, immer schon Landwirt…) halten Dich vom eigenen Weg ab.
„Kind, mach was Ordentliches“ oder „Geh in die Bank, da bist Du sicher“ – diese Sprüche kennt jeder.
Traditionell werden solche Sichtweisen, Unternehmen, Branchen regelrecht überliefert.
Dazu gehört auch, dass man als Frau keinen Männerjob macht und als Mann nicht Balletttänzer wird.
Sei ehrlich: Welche Schranken hast Du im Kopf?
Welche Vor- und Nachteile haben Traditionen für Dich?
Vorteile:
Traditionen bieten Sicherheit. Du bist mit entsprechendem Hintergrund aufgewachsen, vieles ist Dir vertraut. Du musst Dich nirgends raus kämpfen, erfährst kein Misstrauen, sondern Zuspruch, da Du ja auf der Wellenlänge anderer bleibst.
Du hast gleiche Interessen wie Deine Eltern und Dein Umfeld, sonst würdest Du ja nicht in ihre Fußstapfen treten.
Du zollst anderen damit Anerkennung, da Du das, was sie geschaffen haben, übernimmst und lebst.
Du bist stolz darauf, eine Tradition, die vielleicht schon über Generationen hinweg besteht, fortführen zu dürfen.
Nachteile:
- Du lebst Dich selbst nicht aus. Hast ständig ein schlechtes Gewissen. Dir gegenüber. Oder anderen gegenüber, weil Du zu ihnen nicht ehrlich bist. Selbst, wenn Du eine Tradition bewusst und leidenschaftlich pflegst, hast Du auch eigene andersartige Interessen.
- Du verschwendest Zeit. Zeit, in der Du längst Deinen wirklichen Interessen nachgehen und Dir beruflich ein eigenes Standbein aufbauen könntest.
- Du verbrauchst Energie. Deine Energie. Wenn Du eigentlich etwas anderes machen willst, nehmen Motivation, Ideen, Lebendigkeit ab. Irgendwann bist Du gedanklich so sehr in Deinen Traditionen gefangen, dass Deine eigenen Interessen immer mehr zurückstehen. Und Du sie irgendwann aufgibst oder einfach vergisst.
Alles zurück auf Anfang?
Wenn Du in die Fußstapfen oder Träume anderer trittst, hast Du eigentlich nur die Wahl, wieder dort weiter zu machen, wo Deine Eltern aufgehört haben. Also z.B. in ein Ladengeschäft einzusteigen oder Jura zu studieren, weil der Papa das auch getan hat.
Also alles zurück auf Anfang?
Das muss nicht sein.
Warum kombinierst Du traditionelles Business nicht mit Deinen neuen Ideen?
Beispiel Ladengeschäft:
Du kannst doch die Bäckerei Deiner Eltern übernehmen und den Verkaufsbereich umstylen.
Dazu Kurse veranstalten, ebooks herausbringen, in Facebook Rezepte posten oder einen Blog erstellen, in dem Du die Produkte vorstellst.
Spezialisiere Dich auf vollwertige und glutenfreie Waren.
Oder auf Kindergeburtstage mit Muffins, Cakepops & Donuts.
Publiziere Fotoserien darüber, wie Du die Rezepte ausprobierst und neue Ideen einbaust oder wieder verwirfst.
Beispiel Rechtsanwalt:
Du willst schon gerne Jura studieren, aber Dich eben nicht wie Papa auf Wirtschaftsrecht oder Familienrecht spezialisieren? Wie wäre es mit Internet- und Medienrecht?
Topaktuell und sehr gefragt.
Du könntest Blogger und Startups beraten, ebooks entwickeln und Seminare durchführen.
Beispiel Bankenbranche:
Du kannst gerne in die Bank Deines Vaters einsteigen. Wenn Dir das Spaß macht und Du es Dir nicht unnötig schwer machen willst – warum nicht?
Warum nutzt Du Deine IT-Leidenschaft nicht, um Dich in diesem Bereich innerhalb der Bankenbranche zu positionieren? Du musst ja nicht hinter den Schalter. Diese Zeiten sind ohnehin schon (fast) vorbei.
Bleib flexibel und nutze die Möglichkeiten, Deine Interessen zu verwirklichen.
Entscheide Dich für deinen Weg
Im Wald zwei Wege boten sich mir dar,
und ich ging den, der weniger betreten war.
Und das veränderte mein Leben.
Robert Frost
(the road not taken)
Entscheidung gefallen – was jetzt?
Du hast Dich entschieden. Für oder wider die Tradition.
Pro:
Bei einer Entscheidung für die Tradition, solltest Du gleich ganz offen mit Deiner Umwelt über Deine Ideen dazu sprechen. Es ist nicht nur fair, sondern fördert auch ein schnelles Umdenken.
Beispiel Geschäft für Schulbedarf:
Du übernimmst ein Geschäft für Schulbedarf und möchtest Deinen Kunden künftig dazu ein gesundes „Pausenbrot“ anbieten?
Oder gleich auch noch Sprachkurse für Kinder? Oder für gesunde und coole Schultaschen sorgen?
Klasse Ideen. Mach Dich vorher schlau dazu, erstelle am besten gleich einen Businessplan (Vorlagen findest Du im Internet) und erstelle eine elevator pitch für Dein künftiges Business.
Was das ist? Ein elevator pitch ist eine Kurzbeschreibung, die gerade so lange ist, dass Du sie im Aufzug jemandem erläutern könntest. Quasi ein Mini-Businessplan in hochkonzentrierter Form.
Wenn Du so nun auch für Dein Umfeld formulierst, wirst Du Deine Vorstellungen viel eher vermitteln können.
Contra:
Bei einer Entscheidung gegen die Tradition, ist das große Gespräch fällig. Ganz gleich, wer die Absage nun verkraften muss – es wird nicht leicht.
Mach Dir selbst klar, warum Du einen anderen Weg gehen möchtest.
Fasse Deine Gründe zusammen, formuliere einige Argumente und werbe für Verständnis.
Und sei Dir bewusst, dass Du gerade Deinem Umfeld weh tust. Auch wenn Du es nicht willst. Umso wichtiger ist, dass Du Deine Beweggründe deutlich machst.
Wenn Du einen klaren neuen Weg vor Augen hast, beschreibe diesen. Idealerweise hast Du auch dafür schon eine Kurzbeschreibung, einen elevator pitch, parat.
Auch hier gilt es also, in konzentrierter Form zu beschreiben, wohin Dein Weg Dich führt.
Wozu das gut sein soll? Du willst ja Dein Umfeld nicht verprellen, sondern mit ihnen Deinen eigenen Weg gehen. Jetzt kannst Du stundenlang aus Deiner Warte heraus erzählen, was Du – statt der Tradition zu folgen – tun willst. Mit Sicherheit würden Dich Deine Zuhörer als ziemlich egoistisch empfinden. Du redest ja nur von Dir. Und Dein Umfeld lässt Du sitzen.
Mit einer kurzen knackigen Beschreibung kann Dein Umfeld viel mehr anfangen.
Und danach beginnt Ihr am besten, gemeinsam die Lösung des Problems zu suchen:
Wer übernimmt nun stattdessen das Geschäft?
Wer wird nun Teilhaber in der Kanzlei?
Wie kommen Deine Eltern mit der Enttäuschung klar?
Zusammen erarbeitet Ihr die Zukunft für alle Beteiligten.
Niemand fühlt sich allein gelassen und niemand fühlt sich ausgenutzt.
Fazit:
Auch hier gilt: Da geht noch viel.
Traditionen bieten viele Möglichkeiten. Aber es sind nicht die einzigen Möglichkeiten.
Bleibe bei Dir. Und entscheide Dich für Deinen eigenen Weg.
Wie denkst Du über Traditionen? Musstest Du Dich schon einmal entscheiden?
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